Kulturmetropole, weltoffen, lebendig, kiezig – Berlin ist vieles, aber vor allem eine Stadt, die sich stetig wandelt. In unserem Interview mit Architekt Lars Krückeberg vom Architekturbüro GRAFT, lesen Sie, wie es gelingt, vorhandene Stadtstrukturen und Architektur neu zu denken und an unsere heutigen gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen und welche Vorteile eine "unfertige" Stadt bietet.
Im Gespräch mit Architekt Lars Krückeberg
Lars Krückeberg, Mitgründer des Berliner Architekturbüros GRAFT, bringt eine beeindruckende internationale Perspektive und Ausbildung in die Welt der Architektur ein. Sein Weg führte ihn durch renommierte Bildungseinrichtungen wie die Technische Universität Braunschweig, die Università degli Studi di Firenze und die Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc) in Los Angeles, USA.
- neubau kompass:
- GRAFT zählt mittlerweile über 100 Mitarbeiter und hat Projekte in mehr als 30 Ländern. Angefangen hat die Reise 1998 in Los Angeles. Warum hat sich GRAFT 2001 in Berlin angesiedelt?
- Lars Krückeberg:
Wir haben uns 2001 in Berlin niedergelassen, da diese Stadt aufgrund ihrer einzigartigen Geschichte und vor allem durch die ehemalige Teilung, die zu dem Zeitpunkt überbrückt werden musste, wahnsinnig spannend war. Die Offenheit und der Freiraum, die Berlin bot, faszinierten und zogen uns an. Viele junge Menschen aus dem Ausland merkten, dass sie hier immer noch aktiv teilhaben und ihre Ideen verwirklichen konnten. Berlin war damals noch erschwinglich und bot Raum für Kreativität. Heutzutage wird dieser Raum knapper. Verglichen mit Städten wie Paris, London oder Rom ist er aber immer noch vorhanden.
- neubau kompass:
- Wie nehmen Sie Berlin heute wahr und was gefällt Ihnen an der Stadt?
- Lars Krückeberg:
Berlin ist eine Stadt, die Veränderung als Prinzip hat. Ein Ort, an dem man aktiv mitgestalten kann. Eine Seltenheit in der heutigen Welt. Die Stadt zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Offenheit aus: es gibt sowohl Ostberliner als auch Westberliner sowie Neuberliner und Letztere sind eine nicht zu kleine Gruppe. Diejenigen, die neu in der Stadt sind, neigen dazu, sich stark in das städtische Geschehen einzubringen und mitzugestalten. Zugleich ist Berlin einzigartig, da es diese „Kiez“-Mentalität besitzt. Dieser „kiezige“ Aspekt ist nicht nur charmant, sondern auch richtig schön. In Berlin gibt es dörfliche Strukturen inmitten einer Großstadt.
„Berlin ist eine Stadt, die Veränderung als Prinzip hat“
Allerdings kann dieses „kiezige“ Element auch dazu führen, dass einige langjährige Bewohner nicht über den Tellerrand ihres Kiezes hinausschauen und nicht erkennen, dass Berlin gleichzeitig eine kosmopolitische Metropole mit einer internationalen Bevölkerung ist. Wenn Sie mich nach den Dingen fragen, die mir an Berlin gefallen, dann ist es genau dieser spannende Widerspruch. Denn die Reibung dieses Widerspruchs erzeugt Energie, und Energie ist immer förderlich für Bewegung und Veränderungen.
- neubau kompass:
- Was fehlt der Stadt noch?
- Lars Krückeberg:
Manchmal kann Berlin eben zu „kiezig“ sein und sich vor Veränderungen scheuen. Was dieser Stadt fehlt, ist, was sie vielleicht in den 20er-Jahren noch hatte – eine Selbstsicherheit und gewisse Gelassenheit einer Metropole, das, was z.B. New York besitzt. Berlin könnte mehr Vielfalt und Offenheit in Bezug auf Unterschiede zulassen und ein bisschen mehr Größe wagen. Die Stadt verdient das, und ich glaube, wir können dahin zurückkehren. Oft werden die Dinge hier zu klein geredet und zu kleinteilig betrachtet, wie beispielsweise die Schloss-Debatte oder Fragen des Denkmalschutzes.
- neubau kompass:
- Stichwort Denkmalschutz. Wie gelingt es, historische Gebäude zu erhalten und gleichzeitig eine moderne Stadt zu bauen?
- Lars Krückeberg:
Das ist das Gebot der Stunde. Wir sind keine Verfechter der Idee, historische Gründerzeitblöcke einfach wieder aufzubauen. Seit unserer Ankunft in Berlin haben wir an Orten, wo große Lücken klafften, Neubauten aus dem Büro GRAFT errichtet. Unser Ansatz besteht darin, die Bedürfnisse und Möglichkeiten der modernen Stadt ernst zu nehmen. Besonders in Berlin haben wir uns darauf konzentriert, den vorhandenen Gebäudebestand zu stärken und zu synthetisieren. Das führt zu einer Art hybridem Stadtbild mit Flexibilität, neuen Bauweisen, expressiven Fassaden etc. – und das eben alles im Schulterschluss. Zunächst einmal versuchen wir, den Charakter des Ortes zu verstehen und zu würdigen. Wenn ein Gebäude interessant ist, wollen wir mit diesem Charakter arbeiten, anstatt gegen ihn.
Am besten veranschaulicht das unser Firmenname GRAFT, der sich von dem englischen Begriff „Grafting“ (dt. Pfropfen) ableitet. Als die Reblauskatastrophe im 19. Jahrhundert einen Großteil des Weinbaus in Europa zerstörte, griff man damals zu einer Lösung: man nahm eine amerikanische Cowboy-Wurzel, die gegen die Reblaus resistent war, und pfropfte den europäischen Edelreis darauf. Nur so konnte der Wein überleben. Dieses Konzept, scheinbare Gegensätze zu kombinieren und den Charakter eines Ortes zu respektieren, hat uns stark beeinflusst. Anstatt alles neu zu erfinden, verstärken wir den vorhandenen Charakter und denken ihn möglicherweise weiter, kontrastieren oder komplementieren ihn mit modernen Elementen und zeitgemäßen Anforderungen. Die Wiederherstellung verschwundener historischer Gebäude von gestern erscheint uns wenig sinnvoll. Unser Ansatz besteht darin, den Ort ernst zu nehmen und die dort vorhandene Energie zu nutzen – eine Art architektonisches „Jiu-Jitsu“.
- neubau kompass:
- Wie lassen sich städtische Räume ästhetisch, funktional und nachhaltig gestalten?
- Lars Krückeberg:
Unser Projekt „Charlie Living“, ein Neubau am Checkpoint Charlie, ist ein gutes Beispiel dafür, wie städtische Räume heute gestaltet werden können. Obwohl es sich hauptsächlich um Wohnraum handelt, beherbergt das Erdgeschoss auch urbane Funktionen wie Geschäfte und Gastronomie. Hierbei haben wir zwei wichtige Veränderungen vorgenommen: zum einen die Gestaltung der Fassade und zum anderen das Öffnen der Blockstruktur zur Straße nach Südwesten.
Unsere Philosophie von lebenswerter Urbanität legt großen Wert auf die Zugänglichkeit und Durchlässigkeit der Stadt. „Charlie Living“ schafft einen semi-privaten Raum, der es ermöglicht, den Block zu betreten und, wenn man die Struktur kennt, sogar durch den Block hindurchzuwandern. Die Blockstruktur muss demnach nicht zwangsläufig „geschlossen“ gedacht werden, indem außen „Public“ und innen „Private“ voneinander getrennt werden. An manchen Stellen ist eine solche Trennung einfach nicht angebracht und die Permeabilität von städtischem Raum wichtiger.
Denn es kommt hier hinzu, dass an diesem Ort einst die Berliner Mauer verlief. Statt die Idee zu verfolgen, dort erneut eine Mauer zu errichten, fanden wir es befreiend, den Block in Richtung Südwest zu öffnen. Dies ermöglichte es uns, die verdichtete Stadt zu optimieren und eine grüne Oase zu schaffen, deren Präsenz sich auch auf die Fassade auswirkt. Wir versuchen, mit bestehenden Strukturen zu arbeiten, diese jedoch neu zu denken und an unser Leben und unsere heutigen gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen.
- neubau kompass:
- Woher nehmen Sie die Inspiration für die Architektur?
- Lars Krückeberg:
Wir glauben nicht an das Konzept des „Star-Architekten“. Während es zweifellos geniale Architekten gibt, die ihre Büros dominieren, glauben wir, dass dies oft dazu führt, dass das Büro in gewisser Weise eindimensional oder autistisch wird. Kein einzelner Kopf kann alle Antworten zu den komplexen Herausforderungen unserer Profession bieten, genauso wenig wie eine einzige Architektursprache alle architektonischen Probleme bewältigen kann. In unserer Arbeitsweise waren wir immer mindestens zu dritt, da wir daran glauben, dass Architektur besser wird, wenn sie mehrere Schöpfer hat. Wichtig dafür sind eine Offenheit und die Befähigung des Zuhörens.
Es ist nicht immer einfach, als Architekt diese Offenheit zu bewahren, da man in unseren Universitäten dazu erzogen wird, absolut egoistisch zu agieren und überzeugt davon zu sein, dass die eigene Stimme die beste ist. Wir können jedoch nicht nachvollziehen, wie einige Architekten behaupten, dass sie angeblich keine Kompromisse eingehen, da Kompromisse in der Architektur unvermeidlich sind. Gebaute Architektur ist letztendlich das Ergebnis zahlreicher Balanceakte. Es erfordert den Einsatz für eine Idee und die Sicherung einer bestimmten Qualität, aber gleichzeitig auch die Fähigkeit, auf vielfache Bedingungen einzugehen. Ein guter Kompromiss kann möglicherweise zu einem weitaus besseren Ergebnis führen.
„Die Entdeckung wird nur gemacht, wenn man bereit ist, das zu finden, was man nicht gesucht hat“
Unsere Herangehensweise basiert deswegen auf gemeinsamem Entwerfen, diskursivem und dialogischem Arbeiten, sowohl zwischen uns Partnern als auch mit unseren Teams. Mit über 30 Nationalitäten in unserem Büro schätzen wir die kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung, da sie uns einen breiten kulturellen Werkzeugkasten an Herangehensweisen bietet. Manche Probleme erfordern immer denselben „8er-Schlüssel“, während andere mit einem Skalpell oder einem Hammer behandelt werden müssen. Wir glauben nicht daran, uns aufgrund einer bestimmten Signatur oder eines bereits gefundenen guten Ergebnisses einzuschränken.
Deswegen fiel es uns leicht, nach Amerika und China zu gehen und dort jeweils ein GRAFT-Büro zu gründen. Unsere Neugier treibt uns an, da wir glauben, dass Neugierde der Schlüssel zur Entdeckung ist. Wie Louis Pasteur, einer der größten Erfinder der Menschheit, sagte: „Chance favours the prepared mind.“ Manchmal sind Entdeckungen das Ergebnis von Zufällen, aber sie werden nur gemacht, wenn man bereit ist, das zu finden, was man nicht gesucht hat. So gehen wir in die Welt, mit offenen Augen und einem 180-Grad-Blick. Diese Herangehensweise mag herausfordernd sein und kann zu lebhaften Diskussionen führen, aber sie eröffnet eben auch neue Ideen und Lösungen, die wir zuvor noch nicht kannten.
- neubau kompass:
- Kann man das Prinzip der Vielfalt auch auf Städte übertragen?
- Lars Krückeberg:
Das Prinzip der Vielfalt kann zweifellos auf Städte übertragen werden. Es gibt Städte wie Siena oder Florenz, die auf den ersten Blick wie aus einem Guss wirken. Dennoch ist es ein Irrtum zu glauben, dass sie in ihrer Entstehungszeit nicht vielfältig waren und vor allem über Jahrhunderte gewachsen sind. Solche Städte können heutzutage nicht einfach reproduziert werden. Das wird an den von Grund auf neu geplanten Retortenstädten in Amerika und Asien deutlich, die langfristig zum Scheitern verurteilt sind.
Städte brauchen Diversität. Dann sind sie erfolgreich – gerade eine Stadt wie Berlin. Der Erfolg dieser Stadt liegt nicht darin lediglich zu zeigen, wie der Berliner Klassizismus aussah. Die Menschen kommen nach Berlin, weil die Stadt offen ist und eine enorme Diversität bietet. Architektonisch betrachtet kann Berlin sich viel mehr zutrauen und noch mehr Menschen anziehen. Die Betonung liegt dabei auf der Zulassung und Zugänglichkeit von Architektur und urbanem Raum – das ist enorm wichtig.
„Die Zugänglichkeit und das Unfertige sind die Vorteile einer modernen Stadt“
Mein persönliches Lieblingsbuch über Berlin ist Carl Schefflers „Berlin – ein Stadtschicksal“, ein phantastisches Werk, das bereits über 100 Jahre alt ist. Das Buch ist eine Abrechnung mit Berlin. Warum ist Berlin eigentlich keine Stadt und so furchtbar hässlich? Das ist der Subtext dieses Buches. Berlin unterscheidet sich ja von Städten wie Nürnberg oder München, da es keine traditionelle gewachsene Stadtstruktur hat. Berlin ist nie fertig, ständig gibt es Baustellen und Widersprüche. All das, was Scheffler als Defizite der Stadt beschreibt, bezeichnet er als „amerikanisch“ – und genau das ist heute der Vorteil dieser Stadt.
Berlin zeichnet sich durch seine Zugänglichkeit aus. Die Gründerzeit, die die Stadt stark geprägt hat, erlebt heute eine Renaissance als gesellschaftliches Phänomen. Start-ups und innovative Unternehmen siedeln sich in Berlin an, nicht in München. Das liegt an dem besonderen Geist und der Offenheit der Stadt. Die Zugänglichkeit und das Unfertige sind die Vorteile einer modernen Stadt. Dies sollten wir ernsthaft in Betracht ziehen, verbunden mit einer gewissen Gelassenheit. Es ist richtig, dass sich die Stadt ständig weiterentwickelt, Lücken schließt und neuen Ideen Raum gibt. Dennoch sollten wir auch Widersprüche zulassen, denn genau das macht die Stadt interessant. Der Schlusssatz aus Schefflers Buch ist vielen bekannt, auch wenn man das Buch selbst nicht gelesen haben muss: „Berlin: die Stadt, die verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein.“ Wir können uns immer weiterentwickeln, wir sind nie fertig. Das ist das Prinzip des Lebens.
- neubau kompass
- Herzlichen Dank für das Gespräch!
Lesen Sie mehr zum Thema Stadtentwicklung in unserem Beitrag Hochhaus-Debatte in München: Architekt Fabian Ochs im Interview.
Interview: | Janek Müller |
Title Image: | © Christian Thomas |