Neubauten sind Perfektion. Wenn die Immobilien entstehen, ist alles bis auf das kleinste Detail durchdacht. Doch wie wäre es, wenn sie ein fortwährender Entwicklungsprozess wären? Das Haus als wachsendes Lebewesen – in Einklang mit der Natur. Ferdinand Ludwig ist Spezialist auf dem Gebiet der Baubotanik. Der preisgekrönte Architekt glaubt an die Zukunft baubotanischer Häuser.
Ferdinand Ludwig
Ferdinand Ludwig ist Architekt und Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der Technischen Universität München. Der Begründer des Forschungsgebiets Baubotanik am Institut der Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart erhielt 2016 den »Preis für mutige Wissenschaft« des Landes Baden-Württemberg. Als Co-Inhaber des Planungsbüros Office for Living Architecture (OLA) setzt er viele baubotanische Projekte um. Zusammen mit dem Architekten Daniel Schönle hat er das Buch „Wachsende Architektur. Einführung in die Baubotanik“ veröffentlicht, worin er seine Visionen darlegt.
(Foto: BIOKOM AG)
- neubau kompass
- In Ihren architektonischen Entwürfen binden Sie konsequent Bäume in die Struktur von Gebäuden ein – bis hin zum statischen Haupttragwerk inklusive des Verzichts auf ein klassisches Fundament. Wie hat sich diese Idee beziehungsweise Motivation entwickelt?
- Ferdinand Ludwig
Die Idee der Baubotanik hat sich bei mir schon als Student in den ersten Semestern entwickelt. Ich wurde damals von historischen Beispielen, zum Beispiel den Tanzlinden, inspiriert. Was mich von Beginn an begeistert hat, war die Idee, dass Bäume und Bauwerke zu einer Einheit verschmelzen können.
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- Was fasziniert Sie an der Baubotanik und am „Häuser pflanzen“?
- Ferdinand Ludwig
Zugegebenermaßen kann man Häuser nicht pflanzen. Wir formulieren das manchmal in übertriebener Art und Weise so, um zum Ausdruck zu bringen, dass das Pflanzen und Wachsen der Bäume ein wesentlicher Teil unseres Ansatzes ist.
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- Worin liegen die Vorteile im Gegensatz zur herkömmlichen Architektur?
- Ferdinand Ludwig
Der Vorteil liegt darin, dass die ökologischen und ästhetischen Eigenschaften von Bäumen in der Architektur zum Tragen kommen. Das heißt, dass wir den Konflikt, nicht genug Platz für die notwendigen Gebäude und Bäume in unseren Städten zu haben, zumindest teilweise auflösen können.
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- Inwiefern schützen baubotanische Werke das Klima auf bessere Art? Und welche Auswirkungen haben sie auf die Lebensqualität der Menschen, die in dem Gebäude wohnen oder arbeiten?
- Ferdinand Ludwig
Durch den Klimawandel und die zunehmende Verdichtung unserer Städte kommt es zu immer mehr sogenannten Hitzeinseln. Im Sommer stellen diese eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit der Bewohner dar. Baubotanische Projekte können hier einen sehr großen Einfluss auf die Lebensqualität von Menschen haben, denn sie tragen durch ihre Schattenwirkung und Verdunstungskühlung dazu bei, das Leben in unseren Städten angenehmer und lebenswerter zu machen. Auch kann man von einem positiven Beitrag für die psychische Gesundheit der Menschen ausgehen, denn es ist bekannt, dass mehr Grün in unserer unmittelbaren Umwelt positiv wirkt.
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- Ihre Inspiration ziehen Sie aus dem Wissensschatz von Urwald-Völkern, die über viele Generationen hinweg in oder mit zentraler Baumarchitektur leben, z.B. die Meghalaya-Brücke in Indien. Welche Forschungsergebnisse konnten Sie hierbei schon erzielen oder neue Erkenntnisse gewinnen?
- Ferdinand Ludwig
Die lebenden Brücken der Khasi People in Nordostindien, die Sie ansprechen, sind eine wichtige Erkenntnis- und Inspirationsquelle für uns. Was wir vor allem gelernt haben, ist, dass wir baubotanische Gebäude nicht als etwas Fertiges ansehen dürfen, sondern die Aufgabe vielmehr darin besteht, einen langfristigen Prozess zu gestalten.
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- Passt sich das Gebäude dem Baumwuchs an oder umgekehrt?
- Ferdinand Ludwig
Beides. Wir formen die Bäume während ihres Wachstums so, dass sie miteinander verwachsen und zusammen mit technischen Bauteilen eine Konstruktion entsteht. Dabei ist jedoch wichtig, dass das Gebäude so entworfen wird, dass alle Voraussetzungen für ein gesundes Baumwachstum gegeben sind. Insofern passen wir den Entwurf eines Gebäudes an die Bedürfnisse der Bäume an.
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- Sie haben bereits erste Projekte der Baubotanik umgesetzt. Wie realistisch sind Ihre digitalen Entwürfe und die vorherigen technischen Wachstumsprognosen?
- Ferdinand Ludwig
Unsere baubotanische Entwurfspraxis basiert auf mittlerweile fast 20 Jahren Erfahrung und einem breit aufgestellten interdisziplinären Forschungsnetzwerk. Wir arbeiten beispielsweise mit Botanikerinnen und Botanikern sowie Forstwissenschaftlerinnen und Forstwissenschaftlern zusammen, um realistische Vorhersagen des Baumwachstums machen zu können. Tatsache ist aber auch, dass es sich nach wie vor um eine in der modernen Architektur neuartige Bauweise handelt, und dass eine gewisse Unschärfe in den Vorhersagen immer vorhanden ist, da man nie alle zukünftigen Einflussfaktoren kennen kann – das ist ein Stück weit so wie bei der Wettervorhersage… .
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- Wie lange dauert es, bis ein baubotanisches Haus in der Realität vollendet ist?
- Ferdinand Ludwig
Wir sprechen in der Baubotanik nicht von der Fertigstellung eines Gebäudes, da es sich immer weiterentwickelt. Bezüglich der Frage, wann ein Bauwerk inwieweit nutzbar ist, haben wir unterschiedliche Strategien entwickelt. Die Schnellste ist die sogenannte Pflanzenaddition, bei der wir aus hunderten oder gar tausenden jungen Pflanzen unmittelbar ein Grünvolumen erzeugen, das dem eines ausgewachsenen Baumes entsprechen kann. Damit sind von Beginn an die wichtigsten Funktionen bezüglich der ökologischen und klimatischen Wirkungen gegeben.
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- Und dann?
- Ferdinand Ludwig
Anschließend folgt ein Wachstumsprozess, durch den die baubotanische Konstruktion stabiler und robuster wird, weiter Funktionen übernehmen kann – und auch die ökologischen und klimatischen Wirkungen nehmen mit der Zeit noch weiter zu.
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- Wie kann man sich den Bau eines solchen Hauses vorstellen? Was braucht es dazu?
- Ferdinand Ludwig
Baubotanische Bauwerke bestehen aus den pflanzlichen Teilen: durch die Bäume – sowie den technischen Teilen, die in diese einwachsen. Darüber hinaus verwenden wir oft Hilfsstrukturen, die beispielsweise am Anfang noch Tragfunktion übernehmen, die dann an den Baum übergehen. Hinzu kommen alle weiteren Bauelemente, die Funktionen haben, die der Baum nicht übernehmen kann, rund um die Gebäudehülle mit Fenstern, Fassaden, Dämmung und weiteren konventionellen Materialien.
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- Auf welches baubotanische Haus sind Sie bisher besonders stolz?
- Ferdinand Ludwig
Hier würde ich den Platanenkubus in Nagold (Anm.d.Red.: Landkreis Calw in Baden-Württemberg) nennen, da er mit seinen drei Stockwerken das bisher größte baubotanische Bauwerk von uns ist. Er zeigt auf, wie eine Konstruktion aussehen könnte, die beispielsweise ein Wohnhaus ist. Bei dem Projekt handelt es sich jedoch konkret um einen vertikalen Freiraum. In Zukunft sollen die drei Plattformen von den Bäumen getragen werden, um zu zeigen, was Natur leisten kann. Wenn wir uns baubotansiche Wohnhäuser vorstellen, sprechen wir von selbstragenden baubotanischen Fassaden. Der Lastabtrag wird bei solchen Nutzbauten auch in Zukunft über technische Konstruktionen erfolgen – damit wäre der Baum überfordert.
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- Bäume sind Lebewesen, sie reagieren auf Umwelteinflüsse, haben vielfältige Lebensansprüche und unterliegen einem bestimmten Lebenszyklus. Wie wird ein baubotanisches Gebäude angesichts dessen am besten gepflegt?
- Ferdinand Ludwig
Pflege ist sehr wichtig, denn sie ist eine Grundvoraussetzung für die gesunde Entwicklung der Bäume und dafür, dass auch die gewünschten Ziele erreicht werden. Anfangs geht es um gärtnerische Maßnahmen wie zum Beispiel Bewässerung – mittel- und langfristig dann hauptsächlich um den Pflegeschnitt.
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- Welche baubotanischen Visionen würden Sie gerne noch in der Zukunft umsetzen?
- Ferdinand Ludwig
Unser Ziel ist, in den nächsten Jahren unseren Ansatz zu skalieren. Bislang haben wir hauptsächlich experimentelle Bauwerke gebaut, die die Idee zeigen und für unseren Erkenntnisprozess sehr wichtig waren. Ein wichtiger nächster Schritt ist die Umsetzung eines baubotanischen Wohnhauses. Also eines Gebäudes mit einer Baumfassade, bei dem die Baumkrone unmittelbar von den Bewohnerinnen und Bewohnern im Inneren und zum Beispiel auf den Balkonen erlebt werden kann. Darauf aufbauend kann man sich dann sehr gut eine baubotanische Siedlung, eine Straße oder ein Stadtquartier vorstellen.
- neubau kompass
- Ist der Bedarf an baubotanischen Häusern und Wohnungen in der Bevölkerung vorhanden? Mangelt es „nur“ an mutigen Projektentwicklern und Bauträgern, die es einfach einmal versuchen, mit Bäumen zu bauen?
- Ferdinand Ludwig
Es gibt sehr viel positive Rückmeldung. Viele Menschen haben den Wunsch nach mehr Natur in ihrem Alltag. Natürlich sind das nicht alle. Und manchen wäre es vielleicht auch zu viel Natur, in einem baubotanischen Haus zu leben. Aber von dem, was wir in den vergangenen Jahren wahrgenommen haben, sehen wir schon, dass sich das viele Menschen vorstellen können.
- neubau kompass
- Wo sehen Sie noch ungelöste Themen, zum Beispiel, dass sich der Baum bewegt und irgendwann gegen den Rest der Fassade drücken wird? Laub im Herbst auf umgebenden Gehwegen sowie unerwünschte Insekten in den Wohnräumen – wurden solche Probleme schon (theoretisch) angegangen und gelöst?
- Ferdinand Ludwig
Da sprechen Sie viele wichtige Punkte an. Wir haben bezüglich der Statik und Mechanik in den vergangenen Jahren viele Versuche gemacht und können das Verhalten der Bäume auch schon ziemlich gut simulieren. Themen wie Laub auf Gehwegen sind grundsätzlich nicht anders zu bewerten als bei Straßenbäumen. Aber die Frage zum Beispiel nach den Insekten ist schon sehr wichtig, da sie ja viel näher an unsere Wohnräume heranrücken. Hier gilt es, zum Beispiel durch eine kluge Wahl der Baumart ein ökologisches Gleichgewicht so herzustellen, dass die positiven Wirkungen überwiegen und es möglichst nicht zur Belästigung für Bewohnerinnen und Bewohner durch ungeliebte Insekten oder Ähnliches kommt.
- neubau kompass
- Wie funktioniert das baubotanische Haus im Winter? Wie wird es zum Beispiel beheizt?
- Ferdinand Ludwig
Wie schon gesagt, übernimmt der Baum nicht die Funktion der Gebäudehülle. Dies ist technisch zu lösen. Insofern funktioniert ein baubotansiches Gebäude im Winter genauso wie jedes andere Gebäude auch.
- neubau kompass
- Ihre Visionen sind futuristisch. Glauben Sie, dass es in 20 oder 40 Jahren dem Zeitgeist entspricht, in baumbotanischen Häusern zu leben? Oder gehen wir damit einen großen Schritt zurück in die Steinzeit, um auf wie Australopithecus (Frühmenschen) auf Bäumen zu klettern und in Baumhäusern zu leben?
- Ferdinand Ludwig
Ich würde nicht von futuristisch, sondern von zukunftsweisend sprechen wollen. Wir brauchen solche Ansätze! Wenn wir weiter bauen wie bisher, wäre das fatal, denn wir brauchen dringend mehr Grün in unseren Städten, um dem Klimawandel zu begegnen. Und von einem zurück in die Steinzeit würde ich schon gar nicht sprechen. Uns geht es um ein neues, ein zeitgemäßes Verhältnis von Natur und Architektur. Baubotanik ist in ganz wesentlichen Punkten auch eine Bau(m)technologie.
- neubau kompass
- Herzlichen Dank für das spannende Gespräch!
Der Kontakt zu Herrn Ludwig hat sich durch die Messe architect@work 2024 in München ergeben.
Spannende Neubauprojekte, die momentan errichtet werden, finden Sie auf unserer Homepage.
Interview: | Melanie Ludwig |
Title Image: | Kristina Pujkilovic |