Viele Ideen für die Stadt von übermorgen

Viele Ideen für die Stadt von übermorgen – ein Interview mit Stadtentwicklerin Doris Sibum

Wie sieht die Stadt von übermorgen aus und was kann Zukunftsforschung bereits heute zur Entwicklung urbaner Räume und zu Herausforderungen in puncto Klima und Gesellschaft beitragen? Wir sprachen mit Zukunftsforscherin Doris Sibum, die in der Stadt von übermorgen viele Chancen und einiges an neuer Lebensqualität entdeckt.

Doris Sibum.

Doris Sibum

Die Zukunftsforscherin Doris Sibum ist auf Urban Foresight, Stadtentwicklung, Zusammenleben und die Zukunft der Arbeit spezialisiert. Seit August 2022 ist sie Partnerin bei urbanista, einem der führenden Büros für urbane Zukunftsstrategien. Außerdem ist sie Mitgründerin der Urban Chance Academy.

Urbanista

neubau kompass:
Frau Sibum, was braucht eine Großstadt in Deutschland Ihrer Ansicht nach, um zukunftsfähig und damit lebenswert zu bleiben?
Doris Sibum:

Wenn ich an lebenswerte Großstädte im Übermorgen denke, dann sehe ich als Bild vor dem Auge zunächst das, was uns allen schnell in den Kopf kommt, also mehr Grün, gut gestaltete öffentliche Räume, kurze Wege, Mischnutzungen, lebendige Vielfalt in der Innenstadt und anderes mehr. Aber diese Bilder bleiben klischeehafte Wunschvorstellung, wenn Städte nicht zwei Dinge haben: eine von vielen Akteuren der Stadtgesellschaft getragene Zukunftsvision für ihre Stadt und den Mut, die Zukunft aktiv in Richtung dieser Vision zu gestalten.

neubau kompass:
Wenn Sie Szenarien für eine Stadt von übermorgen entwerfen, wie gehen Sie dabei vor?
Doris Sibum:

Städte sind komplexe Systeme, in denen gelebt, gearbeitet, gewohnt wird, die Infrastrukturen bereitstellen, unterschiedlichste Menschen beheimaten, Kultur und Bildung bieten usw. Wenn wir in die Zukunft denken, wenn wir Szenarien entwerfen, müssen wir dem gerecht werden. Mit dem Projekt „Stadt von übermorgen“ haben wir eine Grundlage mit einem solch breiten Blickwinkel geschaffen.

Wir haben über 150 Trends recherchiert, analysiert und in Form von 15 sogenannten „Trendmolekülen“ verdichtet. Das sind Cluster aus Einzeltrends, die gemeinsam hoch relevante Wirkungen entfalten können. Das Spektrum der Trendmoleküle reicht dabei von „Länger leben, länger gesund und aktiv sein“, das u.a. Trends zur demografischen Entwicklung und innovativen Medizintechnologien bündelt, bis zur „Vielfalt der Produktions- und Distributionsprozesse“, das Tendenzen von Globalisierung und Regionalisierung ebenso in den Blick nimmt wie neue Geschäftsmodelle und individualisierte Produktion.

Weil die Trendmoleküle alle Funktionen von Stadt umfassen, nutzen wir diese als Grundlage, um in Form von Szenarien strukturiert in die Zukunft zu denken: Was wird möglich, wenn diese Trends auf unsere Städte „prallen“? Was könnte passieren? Welche Chancen und Herausforderungen könnten entstehen?

neubau kompass:
Welche Herausforderungen wird die Stadt von übermorgen an uns stellen und wie können wir ihnen begegnen?
Doris Sibum:

Die zukünftigen Herausforderungen sind ohne Frage groß und vielfältig. Klimawandel, Klimaanpassung, Ressourcenknappheit, Fachkräftemangel, Demokratiekrise, zunehmende Polarisierung – die Liste ist lang. Den Kopf in den Sand zu stecken, hilft uns nicht weiter, gehört aber aktuell zu den beliebten Strategien. Es gibt kein Patentrezept bei der Bewältigung der Herausforderungen und Krisen, und bestehende Instrumente wie z.B. Prognosen oder klassische strategische Planung stoßen an ihre Grenzen. Deshalb müssen wir neue Wege gehen.

Wir müssen Zukünfte mit Trendanalysen und Szenarien erkunden, um besser zu verstehen, was auf uns zukommt, und aushandeln zu können, wo wir unsere Stadt im übermorgen hin entwickeln wollen. Und bei der Gestaltung unserer Städte brauchen wir Experimentierfreude, Lernfähigkeit und Co-Kreation. Das zu erreichen, ist schon wieder eine Herausforderung, aber ohne diese zu meistern, werden wir auch bei den anderen Herausforderungen nicht erfolgreich sein.

neubau kompass:
Zu den Schwerpunkten, mit denen sich Urbanista im Rahmen der Projektentwicklung beschäftigt, gehören die Innenstädte. Wie lässt sich dem Leerstand von Geschäften entgegenwirken?
Doris Sibum:

Lebensqualität wird zum zentralen Erfolgsfaktor für Innenstädte. Wir beschreiben es gerne so: Wir brauchen eine Erneuerung des „Innenstadtversprechens“. Die vielerorts vorherrschende Monostruktur aus Handel und Büronutzung muss überwunden werden. Die lebendige Innenstadt von übermorgen wird von Vielfalt und Nutzungsmischung geprägt sein.

Der Einzelhandel wird nach wie vor zum Bild der Innenstadt gehören, aber in anderem Umfang und Formen. Die großen Kaufhäuser sind ein aussterbendes Modell. Die Einzelhandelsflächen werden kleiner und verbinden gekonnt digitale und analoge (Erlebnis-)Welten: Ich befinde mich in der Nähe eines Ladens und bekomme auf mein Handy maßgeschneiderte Angebote. Im Laden kann ich dann ein Kleidungsstück virtuell anprobieren, bestelle es direkt in meiner Größe. Das Kleidungsstück wird für mich angepasst und umgehend geliefert, nach Hause oder in den Laden oder wo auch immer ich es entgegennehmen möchte.

In der Innenstadt von übermorgen haben neben Einkaufen auch Wohnen und Arbeiten sowie Kultur und Begegnung ihren Platz. Die Wege werden deutlich kürzer als wir das heute kennen.

neubau kompass:
Welche Chancen bietet die Stadt von übermorgen im Hinblick auf unser Zusammenleben, unsere Arbeit und unsere Gesundheit?
Doris Sibum:

Lösen wir das erneuerte Innenstadtversprechen ein, könnten einige unserer Trendmoleküle positive Entwicklungen forcieren. Kulturelle Vielfalt macht Städte lebendig und inspirierend. Städte könnten mit weniger motorisiertem Individualverkehr leiser und weniger schadstoffbelastet sein. Neue Medizintechnik und telemedizinische Zentren könnten eine gute Versorgungslage im Gesundheitsbereich fördern. Potenzielle Chancen gibt es, aber auch die kommen nicht von allein. Wir müssen sie entwerfen und ergreifen.

Auch die Immobilienwirtschaft: Sie könnten einen Beitrag zu mehr Mischnutzung leisten. Sie könnte vielfältige Eigentumsformen – ob genossenschaftlich oder durch crowd-funding organisiert – ermöglichen. Sie könnte den Renditeerwartungen eine Mischkalkulation aus höheren gewerblichen Mieten und niedrigeren Mieten für gemeinschaftsorientierte Projekte zugrunde legen. Ich bin sicher, Ideen gibt es viele, vielleicht ist es an der Zeit, sie mit ihren Chancen und Risiken in Form von Szenarien mal genauer zu erkunden!

neubau kompass
Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien erstmals in unserem neubau kompass Magazin. Nutzen Sie die Möglichkeit, aus erster Hand Informationen rund um Ihren Immobilienkauf zu bekommen. Ergänzt um Lifestyletipps, Hintergrundberichte und Trends zum Immobilienmarkt. Die nächste Ausgabe erscheint am 7. Mai 2024 und steht auf unserem Portal zum Download zur Verfügung.

Interview:   Julia Niewöhner
Titelbild:   jamesteohart / iStock

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